Mit Volldampf aus der DDR nach West-Berlin: Der Lokführer Harry Deterling will, dass seine Kinder in Freiheit aufwachsen. Ein Gleis ist für seinen Plan ideal – dann erfährt er, dass es in Kürze abgebaut werden soll.
Die Entscheidung musste sofort fallen. Harry Deterling und seine Frau Ingrid wussten, dass sie der DDR unbedingt den Rücken kehren wollten. Schon, um ihren vier Kindern ein Aufwachsen in Freiheit zu ermöglichen – statt der ständigen Gängelei durch sozialistische Parteifunktionäre und der Angst vor einer fast allmächtigen Geheimpolizei.
Eigentlich hatten sie geplant, zwischen Weihnachten und Neujahr zu flüchten. Seit vier Monaten trennte die Berliner Mauer auch innerstädtisch die von den vier Siegermächten besetzte ehemalige Reichshauptstadt; schon neun Menschen waren beim Versuch, diese Grenze in Richtung Westen zu überwinden, gewaltsam gestorben. Auch der vorgesehene Fluchtweg stand fest: Mit einem entwendeten Personenzug der Deutschen Reichsbahn über die Gleise zwischen Albrechtshof und Spandau. Also dort, wo der reguläre Interzonenzug aus der Bundesrepublik nach West-Berlin verkehrte.
Grafik zur Flucht aus der WELT vom 7. Dezember 1961 (Quelle: Axel Springer SE)
Doch Anfang Dezember 1961 erfuhr Deterling eher zufällig, dass die DDR-Behörden bereits in den folgenden Tagen die Strecke sperren und die Gleise abbauen wollten; der Interzonenzug sollte fortan an einer leichter zu überwachenden Stelle im Südwesten des US-Sektors verkehren.
Zusammen mit einem Bekannten Hartmut Lichy, einem erst 18 Jahre alten Heizer, hatte Deterling den Plan ausgeheckt. Gemeinsam wollten sie sechs Familien – zusammen 25 Menschen – aus der SED-Diktatur in die Freiheit bringen. In der Nacht von Montag auf Dienstag teilte er den anderen Fluchtwilligen mit: „Heute um 19.33 Uhr fährt der letzte Zug in die Freiheit.“ Heute – das war der 5. Dezember 1961.