Vorweg; mit schönen Bildern kann ich nicht dienen. Weder von den Motiven her, noch von der Qualität. Wer schöne Bilder sehen will, klicke bitte woanders hin. Noch eine nachträglich eingefügte Bemerkung: Das sind meine Erlebnisse und meine Wahrnehmungen. Es ist eine persönliche Schilderung und ich habe nicht jedes Detail recherchiert. Ich beschreibe wie ich es erlebt habe.
Nach der zweiten Nacht im Keller reifte bei meinen Verwandten der Entschluss die Kinder vor den russischen Bombardements in Sicherheit zu bringen. Nachdem ich auch nach einem Hinweis in einem deutschen Forum Kenntnis von den Evakuierungszügen 7601 bis 7606 der UZ erlangte beschlossen wir in der Familie diese Züge zu nützen.
Die Mitfahrt war kostenlos, eine Reservierung nicht möglich. Mit dem nötigsten Gepäck, ein großer Rollkoffer pro Familienteil - also nicht pro Person - ging es zum Bahnhof. Zeitgleich startete ich in Österreich mit dem PKW Richtung Polen.
Falls jemand fragt – seit 2015 ist die Frage üblich – warum Flüchtlinge so schöne Smartphones haben:
1) Haben Flüchtlinge bis zu ihrer Flucht ein ganz normales Leben und beispielsweise ein Einfamilienhaus gebaut.
2) Versucht mal ohne Kommunikationsmittel in den heillosen Durcheinander zusammen zu finden.
3) Vereinfacht so ein Smartphone die Flucht ungemein. So erfuhr ich zum Beispiel das der Zug nicht in Medyka sondern in Przemysl enden wird. Sind doch 13 Kilometer Unterschied.

Abendstimmung am Thaya-Stausee
Nach drei Zwischenstopps, Mäci in Österreich zwecks Glückliches Mahl, Kauf der Tschechischen Vignette an der Grenze und Tanken und zweites Abendessen irgendwo bei Olomouc, erreichte ich gegen Mitternacht Przemysl. Eigentlich hatte ich versprochen um 0:00 am Bahnhof zu sein. Eine Eingebung riet mir das Auto noch zu tanken. Warum eigentlich? Könnte man genau so gut am Rückweg. Aber ich war ohnehin zu spät und entschloss mich gleich zu tanken. Bei der Tanke wurde ich mehrfach angesprochen wo man noch Diesel bekäme. Wusste ich nicht und war mir auch nicht wichtig ich benötigte ja Benzin. Erst beim Wegfahren fiel mir auf, das ich runde 1/3 mehr bezahlte als an den Autobahntankstellen ausgerufen wurde. Und die sind ja bekanntermaßen nicht billig.


Bahnhofsvorplatz Przemysl Gl.
Am Hauptbahnhof wurde ich gleich wieder von der Polizei verjagt. Also in einer Paralellstraße ein – sagen wir einmal innovativer – Parkplatz gefunden. Aber halt doch ein paar hundert Meter zum Bahnhof.
Mit dem PKW gab es keine Zufahrt, zu Fuß kam man in die Ankunftshalle. Oft war die sicher noch nicht so voll, wie in den Nachtstunden zwischen 25. und 26.2.2022.

Polnisches Fernsehteam bei der Arbeit. Der Mann mit dem Mikro ist sicher ganz berühmt. (In Polen)

Zur Verpflegung der Flüchtlinge gab es verschiedene Angebote, das war eines davon.

Die zwei verteilten Wasser und Schokolade für Kinder.
Nachdem ich mich vor Ort schnell zurechtfand, ich habe ja vor vielen Jahren den Übergang Przemysl oft benützt um eine junge Akademikerin in Lemberg zu besuchen, stand dort der Zug. Irritieren war nur, das es sich um einen HRCS2 handelte und nicht um einen ER. Meine Erklärung dazu war, auch die Breitspurstrecke ist ja PKP Infrastruktur. Möglicherweise sind dort keine ER zugelassen und die Passagiere mussten umsteigen.

Recht schnell verstand ich das System der Einreise. Die Fahrgäste blieben im Zug festgehalten und durften nur Wagen für Wagen aussteigen. Pro Wagen konnte man gut 15 bis 20 Minuten veranschlagen. Bei einem HRCS2 liegt man bei rund 3 Stunden. Dabei konnte man wahrlich nicht unzufrieden sein. Alle Schalter waren besetzt, Frauen mit Kleinkindern wurde bevorzugt abgefertigt und die polnischen Beamten wickelten die Schengen Einreiseprozedur sehr schnell ab.
Friedrich Torberg kam mir in den Sinn, als er die Situation an der spanisch/französischen Grenze beschrieb, kurz bevor die Wehrmacht Bayonne einnahm: „Und die französischen Behörden – es sei zu ihrer Ehrenrettung gesagt, die sie dringend benötigen (und auf die sie vermutlich auch heute noch keinen Wert legen) – amtierten nicht nur normal, sie machten sogar Überstunden, sie stempelten bis in die Nacht hinein ihre Ausreisevisa, ohne die man aus Frankreich nicht hinaus konnte, in die Pässe der oft seit Tagen Anstehenden, sie stempelten und stempelten und kamen nicht auf den Gedanken, das Ausreisevisum einfach abzuschaffen.“ aus Friedrich Torberg, „Die Erben der Tante Jolesch“ Wie lange wird man noch aus der Ukraine kommen? Aus Kiew geht nichts mehr.
Die Stimmung kann man schwer beschreiben. Obwohl bis auf ein paar Sanitäter und viele Feuerwehrleute kaum unpassende Personen da waren, sah man doch gleich das es keine normalen Reisenden waren. Normale Kleidung, normales Gepäck und doch irgendwie alles anders. Die Gesichter? Ich weiß es nicht.
Um halb zwei Uhr kamen dann die Fahrgäste des letzten Wagens und die Nichte mit ihren Kindern war nicht dabei. Ich wandte mich an einen jungen Grenzpolizisten der mit erklärte: „No one ist in the train. Your family is not here, we do not know where they are.“
Ein Schlag in die Magengrube. Es faselte weiter, keine Ahnung was, schließlich meinte er: „Alle people from Kiev are here!“ Kiev???? Lwow! „Ah Lwow! The evacuation train from Lwow will arrive in two hours!“ Na ist das nicht fein?



So lange der da stand, kam kein Zug aus Lwiw (Lemberg, Lwow,). Ein paar Fahrgäste, hauptsächlich Männer, wollten in die Ukraine. Kiew dürfte der Zug nicht mehr erreicht haben, denn mit seinen 10 1/2 Stunden Verspätung war er sicher nicht vor 9 Uhr dort. Und da war Kiew bereits Frontgebiet.
Immerhin reichte die Zeit um das Auto auf die Rückseite des Bahnhofes zu verfrachten. Denn ich wollte den Kindern, teilweise im Vorschulalter, nach der langen Nacht den Fußmarsch ersparen. Der neue Parkplatz war ebenso innovativ, vier Räder am Gehsteig, aber absolut nicht ungewöhnlich in dieser Nacht.

Nun wäre die Einfahrt möglich. Hätte ich um 02:28 gewusst wie lange es noch dauern würde, ich hätte im Auto geschlafen!
Zwischendurch war der zweite Leerpark aus Bohumin eingetroffen. Mangels besserer Ideen besorgte ich mit Kaffee und dokumentierte einmal den Zug. Ein BD und sonst nur B249. Von meiner Nichte wusste ich die „Lokomotive“ sei defekt. Nun ja, was auch immer bei einem ER die Lokomotive ist.


Alles Wagen aus Plzen.


Gar nicht so unbequem, vor allem wenn es kalt ist eine Alternative zur Sitzbank.


Ich schlug mir die Nacht mit Espresso aus dem Automaten (meiner kleiner Sohn hatte mir aus seiner Münzsammlung ein paar Zloty Münzen geschenkt 'Damit ich in Polen Geld habe!' und ein wenig Trainspotting herum. Von 5:40 bis 6:20 habe ich sogar ein wenig im Auto geschlafen. Dann rief mich die Nichte erneut an, der Zug führe jetzt und ihr Akku vom Smartphone sei am Ende.

Fernsehen ist bereit, Zug kann kommen.

Als dann ER2 1232 einrollte verfiel ich in einem emotionalen Ausnahmezustand. Nicht wegen des Triebwagen, so besonders ist die Kiste nun wirklich nicht, sondern wegen der Gesamtsituation. Es zeichnete sich ab, das der 11 ½ Stunden verspätete IC 706 sein Ziel, Kiew, nicht mehr erreichen würde. Mittlerweile war 7603 überfällig und meine Nichten hatten verdammtes Glück in diesem ersten Zug unter zu kommen. Ohnmacht, Trauer und Wut trieben mir das Wasser ins Gesicht.

Nachdem zunächst die Kranken entladen wurden, begann die selbe Prozedur. Die Zustände im Zug waren beschwerlich. Völlig überheizt, ohne Lüftung sind einige Fahrgäste kollabiert. Zeitweise stand er völlig stromlos da. Die Kinder, von den Luftangriffen traumatisiert, litten unter der völligen Dunkelheit und der geschlossenen Fenster und Türen. Und sie verstanden nicht, warum sie nun teilweise stundenlang am Bahnhof auf das Aussteigen warten mussten.
Ein junger Mann mit Megaphon bot ständig kostenlose Nahrung, Transport und/oder Unterkunft an. Er wurde, ebenso wie die von Tschechien bereit gestellten Züge, kaum in Anspruch genommen. Das ist gar nicht ungewöhnlich denn hier waren Leute die rasch die Entscheidung zur Flucht trafen. Und das sind natürlich vor allem jene, die ein Platz zum Andocken haben. Die Republik Österreich wird mit meinen Familienangehörigen kaum Kosten haben, ebenso wenig wie die Republik Italien mit der Familie meines Neffen die im gleichen Zug unterwegs war. Denn seine Schwiegermutter wohnt und arbeitet seit vielen Jahren in Italien und nimmt jetzt ihre Tochter und ihre Enkelkinder zu sich. Und auch dritte Nichte hat schon vor der Abreise gewusst, wo sie in Polen aufgenommen wird.
Als endlich um 10:10 mich meine Nichte umarmte, löste sich die Anspannung. Jetzt befindet sie sich mit ihren Kindern in Sicherheit. Für ihren Mann wünschen wir uns nur das er heil zurück kommen wird. Und langsam beginnt sie zu realisieren, das es wahrscheinlich kein kurzer Ausflug nach Österreich werden wird. Und wir, die das Glück haben das nicht erleben zu müssen, gewöhnen uns daran, das wir nun sehr lange zusammen rücken müssen.

Übrigens: Tanken konnte man am Vormittag des 26. Februar in Przemysl nicht mehr. Trotz der gepfefferten Preise war Benzin und Diesel ausverkauft. Jener siebte Sinn, den alle Reiselustigen mit der Zeit entwickeln, hat mich auch diesmal nicht betrogen. Soweit meine ganz subjektive Sicht der Ereignisse.
Liebe Grüße,
Werner